Don Quijotes Priester, Reich-Ranicki und der Geschichtsprofessor

Erstens ist mir plötzlich dieser Priester im sechsten Kapitel des «Don Quijote» wieder in den Sinn gekommen. Assistiert vom Barbier und der Haushälterin beseitigt da der Priester die Ritterromane aus der Bibliothek des Don Quijote; jene Romane also, die diesem offenbar die Sinne vernebelt haben. Dabei entscheidet der Priester alleine, welche Bücher im Hühnerhof zum Scheiterhaufen aufgetürmt und welche erst einmal verschont und im trockenen Brunnen versteckt werden sollen. Jedes einzelne seiner vielen Verdikte begründet der Priester wortreich, allerdings mit Argumenten von atemberaubend stark schwankender Qualität. Ludovico Ariostos Orlando Furioso findet beim Priester – als eines der ganz wenigen Bücher – jedenfalls Gnade (allerdings nur, weil es eine Ausgabe in der italienischen Originalsprache ist).

Cervantes lässt den tatkräftigen Priester sein wegweisendes Urteil über den Orlando Furioso 88 Jahre nach dessen Entstehung fällen. Und dieses Urteil hat bis heute, 413 Jahre später, Bestand – übrigens auch, was die Übersetzbarkeit von Ariostos Versepos betrifft.

Manchmal haben sie eben doch Recht, diese selbsternannten Kanonisierer und Späher epochaler Meilensteine – wenn sie denn gut genug sind, eben selbst Literaten, am besten so im Format eines Miguel de Cervantes. Das spricht dann für Hermann Kortes fünften Ansatz des literaturgeschichtlichen Unterrichts: Das Wissen der Literatur.

Und zweitens war da diese eine Ausgabe des legendären «Literarischen Quartetts»: Marcel Reich-Ranicki hatte einen Geschichtsprofessor eingeladen, der sich allerdings ausschliesslich über Literatur äusserte und dies mit beeindruckendem Sachverstand tat. Am Ende der Sendung verabschiedete Reich-Ranicki seinen Gast mit der Aufforderung, «der Geschichte, dieser höchst unpräzisen Wissenschaft, doch den Rücken zuzukehren» und in das «viel seriösere Fach der Literaturwissenschaft» zu wechseln. (Reich-Ranickis munter-launige Art liess dabei einmal mehr vergessen, dass hier ein Überlebender des Holocausts sprach.) Ich habe diese beiläufige Provokation Reich-Ranickis nicht mehr vergessen. Warum sich mit etwas so «Unpräzisem» wie Geschichte befassen, wenn es doch etwas so präzises wie Literatur gibt?

Hat Korte womöglich den Ansatz Null vergessen? Also den hier: Literaturgeschichte mangels Präzision einfach ignorieren. Das könnte ich mir im Literaturunterricht eigentlich ganz gut vorstellen.

Scheinobjektivität und Fairness

Das objektive Bewerten von Aufsätzen bleibt die grosse Krux. Trotz aller raffinierter Tabellen, Raster und Matrizen beurteilen wir letztlich ja doch subjektiv. Ich denke nicht, dass Lehrpersonen in der Praxis ihre subjektive Bewertung an eine differierende objektive Bewertungsmethode anpassen würden. Die Bewertungsqualität von Aufsätzen ist halt einfach so gut wie das bewertende Subjekt. Und ich denke, dass man den Schülerinnen und Schülern diesen Umstand erläutern sollte. Der Fairness zuliebe.

Taxonomien und Schreiben

Der Vierseiter, den uns Philippe am 23.11. ausgehändigt hat, ist auf jeder Seite und auf jeder Zeile spannend. Vor allem das Kompetenzmodell Schreiben (Becker-Mrotzeck & Schindler 2007, S. 24) hat es mir angetan, weil es die organische Komplexität des Schreibens und seine vielen Schichten widerspiegelt. Und den Verdacht nährt, dass man mit all diesen Taxonomie-Matrizen vielleicht doch noch mehr anfangen kann, als Module zu bestehen.

Texte bewerten. Freie Buchstaben mögen vielleicht keine fixen Zahlen

Ich habe den Aufsatz 3 einmal mithilfe des Wettinger Rasters und einmal mithilfe des IB-Rasters bewertet. Mit beiden Rastern kam ich auf eine Note von 5,5 – was mir eigentlich zumindest eine halbe Note zu hoch ist. Das kann an meiner dilettantischen Handhabung der beiden Raster liegen, aber auch daran, dass für Wertungen wie «eher brav» oder «eher wenig Zug in der Inhaltsabwicklung» die entsprechenden Tabellenzeilen fehlen.

(Ob Franz Hohlers «Die Rückeroberung» ein richtig spannend zu lesender Text geworden wäre, wäre Hohler von Beruf Dachdecker statt Sekundarlehrer gewesen? Alles richtig zu machen, kann jedenfalls richtig langweilen.)

Den IB-Bewertungsraster finde ich bei genauerer Betrachtung übrigens recht banal aufgebaut: «…adequate…», «…very good…», «…excellent…».

Beim Wettinger Bewertungsraster (und anderen ähnlichen Bewertungsrastern) stört mich der fixe Anteil an möglichen Punkten pro Qualitätsmerkmal. So soll etwa das Qualitätsmerkmal «Eleganz» nur maximal ein knappes Sechstel Anteil an der Gesamtbewertung haben können? Und wie gehe ich da mit den vielen Überschneidungen (z.B. mit den Qualitätsmerkmalen «Intensität», «Eigenleistung», «wirkungsvoller Einsatz sprachlicher Mittel») um?

Beide Bewertungsraster sensibilisieren mich wohl für verschiedene qualitative Aspekte eines Textes. Ich denke aber auch, dass sie Scheinobjektivität vermitteln.

Überzeugende Alternativen finde ich Philipps SPR-Prozess, eben weil es ein Prozess ist. Oder Davids stark vereinfachtes Raster (fragt ihn doch mal danach), welches keine mathematische Präzision vorgaukelt und, ähnlich wie die SPR, Sprache vor allem mit Sprache bewertet. Hier stehe ich hingegen dem Wörtchenzählen mit prozentualer Fehlerberechnung skeptisch gegenüber: Es könnte sein, dass man damit Texte fördert, die in den sicheren und seichten Gewässern einfacher Sprache wortreich vor sich hinplätschern. Und Neujahrsansprachen gibt’s ja schon genug.

(Kleiner Drei-Säulen-Modell-der-Schreibförderung-Reminder)

Das Drei-Säulen-Modell der Schreibförderung unterscheidet drei Prozesse: jenen des Schreibens, jenen des Überarbeitens und jenen des Beurteilens.

– Im Schreibprozess werden demnach zuerst Vorstellungen über den «Schreibanlass» entwickelt, dann Inhalte gesammelt, und schliesslich wird der Schreibprozess «mehrphasig» in Gang gebracht.

– Im Überarbeitungsprozess wird Abstand zum Text gewonnen, werden Dissonanzen entdeckt und Alternativen gefunden.

– Im Beurteilungsprozess werden Texte anderer «zur Kenntnis genommen», man lernt, über Textqualität zu reden und geht schliesslich von der Fremd- zur Selbstbeurteilung über.

Sieber P. (2003). Modelle des Schreibprozesses. In Bredel, Günther, Klotz, Ossner & Siebert-Ott (Hrsg.), Didaktik der deutschen Sprache. Band 1. (S. 208-223). Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh.

Nicht immer voll rein

jeb-putzier-game-left-1

Zum spezifischen Thema der Korrektur einer kurzen Schülerbiografie stelle ich mir folgende Frage:

– Soll man mit dem Rotstift in einen so intimen Text wie eine Biografie hineinschreiben? Wäre das nicht taktlos? (Bei «aufgrund von meinem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom» haben Sie den Genetiv vergeigt.) – Ich denke, hier sollten es einige (wohlwollende) Zeilen am Ende des Textes auch tun. Das «Falsche» kann man da für einmal wohl ausblenden, denn es ist in diesem speziellen Moment zu unwichtig.

Allgemeine Fragen zum Thema Texte korrigieren:

– Ist es wirklich möglich, den Fluss, die Kohärenz und den Rhythmus eines Textes zu bewerten und gleichzeitig auf Interpunktion, Orthografie, Grammatik und Syntax zu achten? Braucht es für diese beiden Bewertungsbereiche (Mikro-/Makroperspektive) nicht je eine Lektüre? Wenn ja, wer macht das im Schulalltag?

– Wenn ich als Werbetexter Texte von Juniortexter*innen begutachte, verwende ich die Duden-Korrekturzeichen (bzw. eine vereinfachte Form davon) wie sie auch Lektorinnen und Korrektoren benutzen. Was spricht dagegen, dies auch im Deutschunterricht zu tun?

 

Fachdidaktik II – Bitte weiter so!

Der Fachdidaktik-I-Kurs war ganz klar das Highlight des ersten Semesters auf dem Weg zum Lehrdiplom. Philipp hat eine ebenso persönliche wie professionelle Art, die Theorie mit der Praxis zu verknüpfen. Die Bereitschaft, sich vom geplanten Vorlesungsverlauf wegführen zu lassen, vermittelt mir nicht nur konkrete Ideen einer agilen Didaktik, sondern auch agiles Lernen meinerseits. Der Lernverlauf ist somit von grosser Natürlichkeit geprägt: Die Lerninhalte wachsen sozusagen organisch von Frage zu Frage, und die vielen thematischen Kurven decken schliesslich ein beträchtliches Feld ab. Die wohl nicht total berechneten Lektionen Philipps entsprechen – in wohl berechnender Weise – der nicht total berechenbaren Natur der Lernenden und des Unterrichts. Philipps Art, dieses Modul zu unterrichten, motiviert mich sehr. Vielen Dank, und bitte weiter so, Philipp.

Gut wäre, wenn wir die Fachliteraturhinweise von Philipp schliesslich in Form einer simplen Liste haben könnten. Es wäre dann hilfreich, diese mit der Pflichtlektüre für die Diplomprüfung abgleichen zu können.

Der Kanon ermöglicht den Diskurs

Die Wahl eines Textes ist weniger wichtig als die Art und Weise, wie man ihn bearbeitet. Doch es wäre naiv zu glauben, es gäbe keinen Kanon. «Richtschnur» ist mir die liebste Übersetzung des altgriechischen kanón. Die wichtigste Funktion des Kanons ist wohl, eine gemeinsame Basis für den kulturellen Diskurs zu bieten. Ohne Kanon würden wir uns vermutlich nur gegenseitig mit Buchtipps überhäufen, ohne je zu dritt über die einzelnen Titel diskutieren zu können.

7. Schuljahr: Dürrenmatts «Romulus der Grosse» – weil das Stück humorvoll und zugänglich ist; Rilkes «Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort» – weil es die Schönheit von Gedichten nachvollziehbar macht («Die Dinge singen hör ich so gern»); Arno Camenischs «Hinter dem Bahnhof» – weil es zeigt, dass auch eine einfache Sprache kunstvoll sein kann.

10. Schuljahr: Schillers «Wilhelm Tell» – weil hier der Umgang mit (literarischen) Vorurteilen thematisiert werden kann; Heines «Der Schelm von Bergen» – weil man Heine kennen muss (Kanon!), aber nicht unbedingt wegen der «Lorelei»; E.T.A. Hoffmanns «Der Sandmann» – weil es die dichtesten, spannendsten und verrücktesten fünfzig Seiten der deutschen Literatur sind.

12. Schuljahr: Katja Brunners «Geister sind auch nur Menschen» – damit man merkt, dass auch heute noch (und sogar in diesem Land) Dramen geschrieben werden; Goethes «Prometheus» – weil die Schülerinnen und Schüler jetzt reif dafür sind, die herrliche Wut darin zu erkennen; Frischs «Der Mensch erscheint im Holozän» – weil hier mit dem Klischee vom rationalen, kühlen Frisch aufgeräumt werden kann, das sie vom «Homo Faber» her ja bestens kennen.